Dr. Georg von Wallwitz, CFA
Seit etwa 400 Jahren, seitdem Blaise Pascal und Pierre de Fermat ernsthaft versuchten,
ihre Gewinnchancen im Glücksspiel zu verstehen, fühlen sich Mathematiker
herausgefordert, Ordnung und Struktur in scheinbar chaotischen Zuständen zu finden.
Damit sind sie weit gekommen, und die jüngsten Entwicklungen in der Künstlichen
Intelligenz sind nur der letzte Beweis für die großen Fortschritte seit der Entstehung
der Wahrscheinlichkeitsrechnung an den Spieltischen von Paris und Toulouse.
Kondratjew hatte sich im Februar 1917 als Revolutionär einen Namen gemacht und war
Von großem Interesse sind bei Ökonomen, Spielern, Spekulanten und Sozialforschern
die Grenzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Was lässt sich nicht, kaum oder nur mit
viel Glück vorhersagen? Wovon lässt man, um die eigene Reputation beziehungsweise
den Geldbeutel zu retten, am besten die Finger, weil es sich der Wissenschaft der
Wahrscheinlichkeitsrechnung entzieht?
Das Problem im Herzen der Theorie komplexer Systeme (zu denen wirtschaftliche
Prozesse zählen) lässt sich an einem Experiment veranschaulichen.1 Man stelle sich
einen Sandhaufen vor, der sich bildet, indem Sandkörner auf eine flache Oberfläche
fallen. Meistens setzt sich jedes neue Sandkorn in einer stabilen Position auf dem
anwachsenden Kegel ab. Manchmal aber löst ein Korn – ein unscheinbares Sandkorn! –
eine Lawine von unvorhersehbarer Größe aus, die die Seite des Sandhaufens
hinunterstürzt. Misst man die Zeitintervalle zwischen den Lawinenstarts und die
Größen der Lawinen, stellt sich heraus, dass diese beiden Zufallsvariablen in keine
klassische Wahrscheinlichkeitsverteilung wie die Normal- oder Poisson-Verteilung
passen. Stattdessen folgten ihre Verteilungen einem „Potenzgesetz“.2 Solche Ereignisse
sind unvorhersehbar. Es gibt keine Struktur und kein Regelmaß in der Entstehung von
Lawinen, sondern nur einen Zufallsprozess. Dieses Phänomen lässt sich in den
verschiedensten Kontexten beobachten.
Wenn technische Prozesse sich der Vorhersagbarkeit entziehen, dann muss es nicht
wundern, dass dies bei sozialen und wirtschaftlichen Interaktionen umso mehr gilt. Ein hoher Vernetzungsgrad in diesen komplexen Systemen bedeutet, dass eine Änderung
an einer Stelle einen unvorhersehbaren Kaskadeneffekt an anderer Stelle auslösen
kann. Diese Systeme sind anfällig für plötzliche Strukturveränderungen von
unvorhersehbarem Beginn und Ausmaß, wobei die Beziehungen zwischen Ursache und
Wirkung oft nicht linear sind. Ein kleiner Auslöser kann enorme Auswirkungen haben
(sogenannter Schmetterlingseffekt), während ein großer Eingriff manchmal kaum
etwas bewirkt. Rückkopplungsschleifen können Effekte verstärken oder abschwächen,
was Vorhersagen erschwert. Kurz und knapp: Menschliches Verhalten ist zu oft
irrational, emotional und irgendwie unbegründet, als dass es sich in ein einfaches,
schönes und robustes Modell zwängen ließe.
Was können wir aus alledem lernen? Wir können zwar feststellen, ob die Bedingungen
für eine Lawine vorhanden sind, aber wir können nicht mit irgendeiner Sicherheit
sagen, ob sie kommt, und wenn sie es tut, wie groß sie sein wird. Mit anderen Worten:
Wir sind in der Lage, eine Lawine (und verwandte Phänomene) im Nachhinein zu
erklären, aber wir können fast nichts über sie sagen, bevor sie geschehen. So sind auch
ökonomische Vorhersagen ein Ding der Unmöglichkeit.
Als Fondsmanager wird man nicht für die Vorhersage von Ereignissen bezahlt, sondern
dafür, sein Portfolio an die wirtschaftlichen Realitäten anzupassen. Crashpropheten
liegen alle 10 Jahre richtig und verlieren dazwischen viel Geld. Ewigen Optimisten
ergeht es oft wie dem Nichtschwimmer, der einen Fluss zu durchqueren versucht, von
dem er weiß, dass er im Durchschnitt 70 cm tief ist. Bullen- und Bärenmärkte können
länger dauern und zu extremeren Kursen führen, als es sich vernünftige Leute für
möglich halten. Niemand kann auch nur eine Wahrscheinlichkeit dafür angeben, ob der
DAX zum Jahresende höher oder niedriger steht. Wer es dennoch tut, ist ein Scharlatan.
Wer auf sein Geld achtet, sollte also die Gegenwart sehr ernst nehmen und auf seine
Ahnungen über die Zukunft nicht viel geben – und mehr als Ahnungen sind nicht drin.
Die wichtigsten Fragen lauten daher: Wie sieht das aktuelle wirtschaftliche Umfeld
aus? Wie sind die Märkte bewertet? Wie ist die Stimmung? Aus der Antwort auf diese
drei Fragen lässt sich ableiten, in welchen Wertpapieren man investiert sein sollte
(wenn überhaupt).
Wie also steht es um die Wirtschaft? Kurz gesagt: mau. Vieles wird noch von den
Effekten der Zollankündigungen überlagert (viele Unternehmen haben noch vor
Inkrafttreten der Zölle Waren für die USA produziert und dorthin transportiert), aber in
der US-Konjunktur sind deutliche Bremsspuren erkennbar. Der Technologiesektor läuft
zwar hervorragend und die Unternehmen investieren viel Geld. Aber der für die
breitere Konjunktur sehr wichtige Immobilienmarkt verzeichnet eine geringe
Nachfrage, sowohl bei den Baugenehmigungen (auf dem niedrigsten Stand seit
Corona) als auch bei den Renovierungen. Die Arbeitslosenzahlen sehen schlecht aus
(weshalb die Leiterin der entsprechenden Statistikbehörde gefeuert wurde). Der private
Konsum hat sich deutlich verlangsamt und das Verbrauchervertrauen hat sich im laufenden Jahr weiter eingetrübt. Die Inflationsrate bleibt in den USA zu hoch, um
guten Gewissens die Zinsen senken zu können. In China läuft es ebenfalls nicht rund
und in Europa warten alle darauf, dass der neuerliche Geldsegen aus Berlin der
Konjunktur des Kontinents wieder eine Lokomotive beschert. Zu sehen ist davon
bislang wenig
Die Bewertung der Aktien und Unternehmensanleihen ist hoch. Die beigefügte Grafik
bringt es auf den Punkt. Das Verhältnis von Kursen zu geschätzten Gewinnen ist für
S&P 500, DAX und MSCI World historisch sehr hoch. Amerikanische Aktien sind höher
bewertet als in 97% aller übrigen Perioden. Für den DAX sieht es mit 92% nicht viel
besser aus.
Quelle: Robert Shiller
Für den amerikanischen Aktienmarkt lässt sich die Situation auch anhand des von
Robert Shiller über den Zyklus geglätteten Kurs-Gewinn-Verhältnisses
veranschaulichen: Es liegt aktuell bei 37,9 und damit auf einem Niveau, das für die
kommenden Jahre ausgesprochen schwache Renditen erwarten lässt. Wer heute teuer
investiert, wird erfahrungsgemäß lange brauchen, bis er den Kaufpreis zurückverdient
hat.
Aktien USA: zyklisch adjustiertes KGV
Quelle: Robert Shiller
Die Bewertungen werden heute in den USA durch die beispiellosen Gewinne der
großen Tech-Konzerne und die Aussicht auf enorme Effizienzgewinne durch den
Einsatz Künstlicher Intelligenz gerechtfertigt. Das Thema Zölle wird weitgehend
ignoriert, mit dem Hinweis, dass die Zölle durch Ausnahmen („TACO“) und
Vermeidungsstrategien verwässert werden. Es ist möglich, dass wir durch den Einsatz
von KI einen echten Regimewechsel in den ökonomischen Bedingungen erleben
werden. Diese Möglichkeit wird jedenfalls in den heutigen Kursen abgebildet. Demnach
sind die Bewertungen gerechtfertigt, weil die Märkte nun von Unternehmen dominiert
werden, die 1. schneller wachsen, 2. weniger zyklisch sind, 3. weniger Kapital benötigen
und 4. eine weitgehend uneinnehmbare Marktstellung haben. Ob das wirklich so ist
und so bleibt … ich kann aus den oben genannten Gründen keine Voraussage machen,
bin aber dennoch vorsichtig zufriedener Aktionär von Microsoft, Alphabet et al.
Der dritte entscheidende Faktor ist die Stimmung, welche nicht zuletzt die
Bewertungen treibt. Die Stimmung ist insgesamt positiv: Die Cash-Quote der Anleger
ist niedrig, aber die Sentiment-Indikatoren sind nicht euphorisch. Die Risikoaufschläge
bei Anleihen sind sehr niedrig, was auf einen gesunden Risikoappetit auch im
Anleihemarkt schließen lässt. Kryptowährungen und Meme-Stocks (Aktien, die von
Privatanlegern mehr zum Vergnügen als zum Geldverdienen gekauft werden) sind
wieder sehr in Mode und markieren neue Höchststände. Allgemein ist die Stimmung
verbreitet, dass es klug ist, jeden Rücksetzer im Markt zu kaufen („nothing ever
changes“) – was vielleicht kein Wunder ist, liegt doch der letzte echte Bärenmarkt
mittlerweile 16 Jahre zurück, sodass nur die älteren unter den heutigen
Marktteilnehmern einen lang andauernden und tiefen Kursverfall erfahren haben. So
regiert FOMO an den Märkten: Die Angst, etwas zu verpassen, ist größer als die Furcht
vor Verlusten. Die kollektive Hoffnung auf bessere Kurse kann aber noch lange
anhalten und zu noch höheren Bewertungen führen (Hoffnung und Furcht sind
meistens soziale Phänomene: Selten trifft man auf einen Pessimisten unter vielen
Optimisten und umgekehrt. Dieser Umstand verleiht den emotionalen Zuständen an
der Börse eine gewisse Stabilität.)
Eine mäßige wirtschaftliche Entwicklung, hohe Bewertungen und eine recht positive
Stimmung an der Börse legen Vorsicht nahe. Ich bin so weit davon entfernt, einen
größeren Kursverfall zu prophezeien, wie ein Sandhaufenforscher eine Lawine. Aber die
Bedingungen für eine Korrektur sind vorhanden. Kaufkurse sehen jedenfalls anders
aus.
1 Bak, P.: How Nature Works: The Science of Self-Organized Criticality. Springer-Verlag, 1996.
2 In diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit einer Stichprobe der Länge x proportional zu x−k, wobei k ein fester Parameter
des Zufallsprozesses ist. Potenzgesetz-Verteilungen haben nur dann einen endlichen Mittelwert, wenn k > 2, und nur
dann eine Varianz, wenn k > 3. Das bedeutet, ein Potenzgesetz mit k ≤ 2 hat keinen Mittelwert oder keine Varianz.
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